Wie entsteht Schizophrenie?

Menschen mit Schizophrenie leiden oft an kognitiven Störungen. Dazu zählen Beeinträchtigungen der Selbstkontrolle, der Aufmerksamkeit und Konzentration sowie der Gedächtnisleistung. Entzündungsreaktionen im Gehirn können bei der Entstehung dieser Symptome eine Rolle spielen. Einem Wissenschaftsteam ist es nun erstmals gelungen, diese Mechanismen an lebenden, menschlichen Zellen nachzuverfolgen. Die Forscherinnen und Forscher des NMI Naturwissenschaftlichen und Medizinischen Instituts in Reutlingen wendeten dafür eine neue Methode an. Gemeinsam mit der Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie in Tübingen untersuchten sie so zum einen, wie Immunzellen von Patienten mit Schizophrenie Nervenzellen durch entzündliche Prozesse schädigen. Zum anderen konnten sie zeigen, dass entzündungshemmende Medikamente dabei positiv wirken. Die Ursachenforschung hilft, Schizophrenie besser zu verstehen und behandeln zu können. Ihre Fortschritte in der Schizophrenieforschung veröffentlichte das Wissenschaftsteam kürzlich in der renommierten Fachzeitschrift Nature Communications Biology.

Bei etwa einem Prozent der Bevölkerung tritt im Laufe des Lebens Schizophrenie auf. Die Erkrankung äußert sich durch eine Vielzahl unterschiedlicher Symptome wie Halluzinationen, Ich-Störungen, Wahnvorstellungen und kognitive Störungen. Menschen mit Schizophrenie leiden oft an Freudlosigkeit, fehlendem Antrieb und mangelndem sozialen Kontakt, die Suizidrate ist hoch. Auslöser für die Erkrankung können Umweltfaktoren, soziale Einflüsse, Drogenmissbrauch oder genetische Ursachen sein. Einige Symptome sind gut behandelbar, andere, vor allem kognitive Störungen, sind bisher kaum erforscht. Der Grund: Für experimentelle Untersuchungen sind Nervenzellen notwendig. Die sitzen im Gehirn und können nicht einfach von lebenden Menschen entnommen werden.

Untersuchung mit Hautzellen
Das Forschungsteam aus Reutlingen und Tübingen hat nun eine Methode entwickelt, den Ursachen von Schizophrenie auf den Grund zu gehen, ohne Nervenzellen von lebenden Menschen zu entnehmen: Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nutzten stattdessen Hautzellen von Menschen, die an Schizophrenie erkrankt sind. Die Hautzellen wurden unter der Leitung von Prof. Dr. Andreas Fallgatter an der Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie in Tübingen von Patienten entnommen. Das Team um Prof. Dr. Hansjürgen Volkmer am NMI in Reutlingen, hat die Zellen anschließend in Stammzellen umprogrammiert. Aus diesen Stammzellen konnten Neuronen, also Nervenzellen, und mikrogliale Zellen ausdifferenziert werden. Mikroglia sind die Immunzellen des Gehirns.


Es stellte sich heraus, dass die mikroglialen Zellen von Erkrankten aktiviert sind und durch entzündliche Prozesse die Neuronen schädigen. „Sie zerstören Synapsen, was nahelegt, dass aktivierte Mikroglia die Funktion neuronaler Netzwerke einschränkt und dadurch kognitive Störungen hervorruft“, erklärt Prof. Dr. Hansjürgen Volkmer vom NMI. „Dass Entzündungsreaktionen bei manchen an Schizophrenie Erkrankten eine Rolle spielen könnte, ist seit ein paar Jahren bekannt. Bislang gab es aber keine Möglichkeit, solche Mechanismen experimentell zu untersuchen. Das ist uns nun gelungen.“

Entzündungshemmer durchbrechen Teufelskreis
Gleichzeitig haben die Forschenden festgestellt, dass Neuronen die mikroglialen Zellen geradezu anfeuern. Beide Zelltypen beeinflussen sich also gegenseitig negativ – ein Teufelskreis. Die gute Nachricht: Die Aktivität der Mikroglia konnte durch die Vorbehandlung mit Minocyclin, einem entzündungshemmenden Medikament, reduziert werden. Das verringerte den Synapsenverlust. „Die Ergebnisse helfen uns, die individuellen Ursachen von Schizophrenie besser nachzuvollziehen. Zu verstehen, wie eine Erkrankung entsteht, ist der erste Schritt, sie zu behandeln. Mit unserer Forschung wollen wir einen Beitrag zu neuen Therapien bei Schizophrenie leisten, bei denen die Behandlung von Entzündungsmechanismen einbezogen wird“, sagt Prof. Dr. Andreas Fallgatter von der Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Tübingen.

Erkenntnisse stärken Medizinstandort
Gefördert wurden die Arbeiten vom Forum Gesundheitsstandort Baden-Württemberg. „Ich freue mich sehr, dass mit diesem Verbundprojekt ein wichtiger Meilenstein in der Medizinforschung erreicht wurde. Darauf bin ich stolz“, sagt Prof. Dr. Katja Schenke-Layland, Direktorin des NMI. „Die gute Zusammenarbeit mit der Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie in Tübingen zeigt, dass wir in Baden-Württemberg wichtige Medizinexpertise haben und damit viel erreichen können. Das trägt nicht nur zu besseren Behandlungsmöglichkeiten von Erkrankungen bei. Es stärkt auch die Gesundheitswirtschaft in unserer Region.“

Die Publikation „Regulation of synaptic connectivity in schizophrenia spectrum by mutual neuron-microglia interaction“ von Dr. Ricarda Breitmeyer (Erstautorin) und Prof. Dr. Hansjürgen Volkmer (verantwortlicher Autor) ist in der Nature Communications Biology 6, 472 (2023) erschienen. Sie ist online verfügbar unter https://www.nature.com/articles/s42003-023-04852-9.pdf.

Über das NMI
Das NMI Naturwissenschaftliche und Medizinische Institut in Reutlingen ist eine außeruniversitäre Forschungseinrichtung und betreibt anwendungsorientierte Forschung an der Schnittstelle von Bio- und Materialwissenschaften. Es verfügt über ein einmaliges, interdisziplinäres Kompetenzspektrum für F&E- sowie Dienstleistungsangebote für regional und international tätige Unternehmen. Dabei richtet sich das Institut gleichermaßen an die Gesundheitswirtschaft sowie Industriebranchen mit werkstofftechnischen und qualitätsorientierten Fragestellungen wie Fahrzeug-, Maschinen- und Werkzeugbau.
Das Forschungsinstitut gliedert sich in drei Geschäftsbereiche, die durch ein gemeinsames Leitbild miteinander verbunden sind: Die Suche nach technischen Lösungen erfolgt stets nach höchsten wissenschaftlichen Standards. Im Geschäftsfeld Pharma und Biotech unterstützt das NMI die Entwicklung neuer Medikamente mit biochemischen, molekular- und zellbiologischen Methoden. Der Bereich Biomedizin und Materialwissenschaften erforscht und entwickelt Zukunftstechnologien wie die personalisierte Medizin und Mikromedizin für neue diagnostische und therapeutische Ansätze. Im Fokus des Dienstleistungsangebotes steht für Kunden die Strukturierung und Funktionalisierung von Werkstoffen und deren Oberflächen. Im Geschäftsfeld Analytik und Elektronenmikroskopie werden analytische Fragestellungen beantwortet.


Über die Landesgrenzen hinaus ist das NMI für sein Inkubatorkonzept für Existenzgründer mit bio- und materialwissenschaftlichem Hintergrund bekannt.

Das NMI Naturwissenschaftliche und Medizinische Institut in Reutlingen wird vom Ministerium für Wirtschaft, Arbeit und Tourismus des Landes Baden-Württemberg unterstützt und ist Mitglied der Innovationsallianz Baden-Württemberg, einem Zusammenschluss von 12 außeruniversitären und wirtschaftsnahen Forschungsinstituten.

Datum:
16.05.2023
Kategorien:
Presse